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Was im Leben zählt

Roman

Erschienen am 30.07.2001
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783312002856
Sprache: Deutsch
Format (T/L/B): 3 x 21 x 13.2 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Seit Jahren wünscht sich die Mutter sehnlichst eine nette Verlobte für ihren Sohn. Als die alte Dame krank wird, beschließt er, ihr eine Freude zu machen. Auf dem Busbahnhof spricht er ein Mädchen an, das als seine Freundin durchgehen könnte. Leider ist er nicht besonders beredt. Erst das dritte Mädchen versteht sofort, worum es geht. Die kranke Mutter ist überglücklich und spricht schon von Heirat. Auch der wortkarge Sohn ist überrascht: die junge Frau kennt sich sogar bei seiner Lieblingsband The Smiths aus. Leider muss sie zurück auf den Bahnhof, um ihren Bus zu erwischen.

Autorenportrait

Ina Kronenberger hat nach Auslandsaufenthalten in Frankreich und Israel Romanistik und Skandinavistik studiert und arbeitet seit vielen Jahren als Literaturübersetzerin aus dem Norwegischen und Französischen. Sie übersetzt u.a. Per Petterson, Dag Solstad, Monica Isakstuen, Nina Lykke, Cathy Bonidan, Sophie Daull und Anna Gavalda.

Leseprobe

Ich bin jetzt vierzig, so alt wie Morrissey. Bald kommt der Herbst, und meine Mutter ist zum Sterben in den Arbeiterblock heimgekehrt. Sie liegt die meiste Zeit im Bett, kalt und dünn, klein und durchscheinend, und wartet auf den Tod, während sie in den Schlaf gleitet und wieder hinaus. Ich breite die Decke über sie und hole ihr Wasser, wenn sie etwas trinken möchte. Ich halte ihre Hand und bürste ihre Haare, wenn sie wach ist. Ich möchte, dass sie die Medikamente nimmt, die sie vom Krankenhaus bekommen hat, aber sie weigert sich. Ich habe genug Medikamente genommen, sagt sie. Ich will nicht mehr. Ich dränge sie nicht und denke insgeheim, dass es keine Rolle spielt. Bald ist es ohnehin vorbei. Bald ist es zu Ende. Ich habe den Ohrensessel aus dem Wohnzimmer geholt. Ich kauere mich mit einer Wolldecke hinein, wenn meine Mutter schläft. Die Tage bringen einen letzten Rest von Sommer, als würden sie ein letztes Mal aufflammen, bevor der Herbst alles in Asche und Untergang verwandelt. Ich mag die Abende im späten August, wenn die Dunkelheit schleichend zurückkehrt und der Mond über die Bergkämme rollt. Ich weiß nicht, mit den hellen Sommernächten stimmt etwas nicht. Als hätte man sie mit dem falschen Programm gewaschen. Ich sehne mich nach dem Herbst, dem Regen an der Scheibe und der Dunkelheit mit all den Lichtern draußen, als hätte jemand die Scheibe mit Fingerfarbe betupft. Ich sehe, wie sich das Licht im Zimmer langsam verändert, wie alle Gegenstände unterschiedliche Schatten werfen, je nach Tageszeit. Ich sehe, wie die Nächte dichter werden, wie die Insekten hilflos die brennenden Lampen umkreisen. Eines Abends fange ich mit den Händen einen Nachtfalter, halte ihn gefangen und spüre, wie er verzweifelt zwischen meinen Handflächen hin und her saust, von einer Seite zur anderen. Dann lasse ich ihn frei. Nachts höre ich auf dem Walkman alte Smiths-Songs: "Back to the Old House" und "Stretch out and Wait" und "Asleep". Ich weiß, wenn ich später diese Lieder höre, werde ich an meine Mutter denken in den letzten Tagen ihres Lebens. Sing mich in den Schlaf, sing mich in den Schlaf. Ich sehe, wie klein sie geworden ist. Sie ist ganz winzig geworden, wie ein kleines Mädchen, als hätte sie den Kreis komplett durchlaufen, vom Mädchen zur Frau und wieder den ganzen Weg zurück zum Mädchen. Aber noch immer ist sie schön, und ich sehe sie gerne an, wenn sie schläft. Ihre feinen Gesichtszüge. Die mageren Hände, die auf der Decke ruhen, Hände mit Adern in den seltsamsten Mustern und mit einer Haut wie dünnem Papier. Langsam breitet sich der Tod in ihrem Körper aus. Bald ist es zu Ende. Bald ist es vorbei. Bald ist meine Mutter nicht mehr. Ein paar Tage und Nächte lang befindet sie sich an einem Ort zwischen dieser Welt und einer anderen, jenseits aller Hoffnungen. Wie ist ihr Leben gewesen? Ich erinnere mich an etwas, das Morrissey über Zufriedenheit gesagt hat. Er hat gesagt, es gelinge dem Menschen nie, zufrieden zu sein. Man versucht, ein ganzes Leben lang, zufrieden zu sein, aber man kommt niemals an, denn man legt alles Wichtige beiseite, alles Wichtige legt man beiseite, während man auf den Tag in seinem Leben wartet, der niemals kommt. Leseprobe